Zur Geschichte der US-amerikanischen Geigenbauer-Familie Gemünder in Ingelfingen, Boston und New York
In der Zeit, in der Johann Georg Gemünder aus dem süddeutschen Städtchen Ingelfingen zum New Yorker Geigenbauer George Gemunder wurde, fielen die letzten alten Kirchen und Häuser in der explosionsartig wachsenden Stadt New York. Wie sein Pariser Lehrer Jean-Baptiste Vuillaume wusste George Gemunder vom Wert alter Bauhölzer, streifte umher – und fügte den europäischen Hölzern in seinem Lager manch einen Sparren aus begehrter amerikanischer Fichte hinzu. Der „Sound of New York“ ist auch die Stimme einer alten Gemunder Geige, in der amerikanisches und europäisches Holz schwingt, und von einer ebenso typischen wie außergewöhnlichen Einwanderung in die neue Welt erzählt.
Übersicht:
Von Johann Georg Gemünder zu George Gemunder
Am Anfang dieser Geschichte steht die Werkstatt von Johann Georg Gemünder sen., der um die Wende zum 19. Jahrhundert Hofgeigenbauer der süddeutschen Fürsten zu Hohenlohe-Ingelfingen war und über dessen Arbeit so gut wie nichts bekannt ist. Nach seinem Tod im Jahre 1835 verließen seine drei Söhne August Martin Ludwig, Johann Georg jun. und Albert nach und nach ihre Heimat, um schließlich auf unterschiedlichen Wegen nach Amerika auszuwandern, wie so viele ihrer Zeitgenossen. August und Albert Gemünder erreichten Springfield in Massachusetts 1846, vermutlich nach mehreren, wenig erfolgreichen Versuchen, sich in Deutschland als Geigen- bzw. Orgelbauer zu etablieren.
Johann Georg jun., später George Gemunder, wanderte zunächst durch Europa, auf der Suche nach Möglichkeiten, als Geigenbauer zu arbeiten und seine Fähigkeiten zu vervollkommnen. Er hatte nicht viel Erfolg bei seiner Reise durch Ungarn, Österreich und Bayern – bis ihn ein glücklicher Zufall 1843 zu J. B. Vuillaume nach Paris führte, der das Talent des mit seinen 26 Jahren schon nicht mehr ganz jungen Handwerkers erkannte. Bei Vuillaume lernte Gemünder die Geheimnisse des französischen und italienischen Geigenbaus kennen und verfeinerte seine Kunst, nicht zuletzt durch den Kontakt mit großen Violinisten wie Ole Bull, die zu den regelmäßigen Besuchern des Hauses Vuillaume zählten.
In seinen Erinnerungen „The Violin: George Gemünder‘s Progress in Violin Making“ hebt Gemünder seinen steilen Aufstieg in der Vuillaume-Werkstatt und den Neid seiner Kollegen hervor, weder zu Unrecht noch ganz frei von Eitelkeit, die zu den weniger angenehmen Charakterzügen des stets Anerkennung suchenden Geigenbauers gehörte. 1847 verließ er Vuillaume, dem er in großem, gegenseitigem Respekt verbunden blieb, und reiste nach Lynn in Massachusetts, um mit seinen Brüdern eine musikalische Karriere zu beginnen. Sie endete, kaum ein Jahr später, in einem finanziellen Fiasko, worauf sich George Gemunder als Geigenbauer in Boston niederließ – und auf einem außerordentlich hohen Niveau zu arbeiten begann. Obwohl die Hauptstadt von Massachusetts als bedeutender Handelshafen zu den reichsten Städten der U.S.A. gehörte und durch den kontinuierlichen Strom von Einwanderern sehr stark wuchs, scheinen die Bedingungen für eine Geigenbauer-Werkstatt alles andere als günstig gewesen zu sein. 1852 zog George Gemunder deshalb nach New York, die einzige Stadt des Kontinents, in der ein professionelles Orchester bestand und regelmäßig Konzerte internationaler Solisten stattfanden. Hier konnte Gemünder seine bei Vuillaume erworbenen Fertigkeiten und Erfahrungen ausspielen, denn offenbar war er in jener Zeit der einzige Reparateur seiner Klasse in der aufstrebenden und kulturversessenen Stadt.
So waren die 1850er und 1860er Jahre die Zeit, in der George Gemunder einen rasanten Aufstieg erlebte, sein Vermögen vervielfachte, seine Werkstatt mehrfach erweiterte und talentierte Assistenten aus den U.S.A., aber auch aus seiner deutschen Heimat aufnahm. Ausdruck seines Erfolgs und auch eines gewachsenen Selbstbewusstseins war der Kauf einer Farm in Astoria, einer abgelegenen und vergleichsweise exklusiven Ansiedlung vorwiegend deutscher Immigranten auf Long Island. Vielleicht hat ihn eine andere deutsche Familie zu diesem Schritt inspiriert, die im Musikinstrumentenbau Erfolge feierte, denn kein geringeres Unternehmen als Steinway & Sons verlagerte in denselben 1870er Jahren ebenfalls seine Produktion nach Astoria und errichtete dort die Arbeitersiedlung „Steinway village“. Gemünders Werkstatt nahm freilich nie vergleichbare Ausmaße an, was aber die Qualität seiner Arbeit angeht, genoss er bei großen Musikern seiner Zeit bestes Ansehen, darunter der bereits erwähnte Ole Bull, aber auch Louis Spohr und August Wilhelmj schätzten Gemünders Instrumente.
Dass der wohl beste amerikanische Geigenbauer dieser Zeit weiter an den großen europäischen Ausstellungen teilnahm, belegt zum einen, dass die Maßstäbe dieser Kunst nach wie vor in der alten Welt bestimmt wurden, zum anderen aber auch den Ehrgeiz und die Sehnsucht nach Anerkennung, die George Gemunder bis zu seinem Tode antrieb. Schon 1851 hatte ein Quartett auf der Londoner Ausstellung die höchsten Auszeichnungen erhalten, und es war keineswegs bei diesem Erfolg geblieben – allein, Gemünder war nie zufrieden und sah sich von Ignoranten umgeben, denen er zuweilen durchaus nachlässig gearbeitete Instrumente verkaufte. Diese Akte künstlerischer Rache verstellten postum zunächst den Blick auf seine Leistung, die erst in jüngerer Zeit anhand seiner besten Werke wieder in angemessener Weise gewürdigt wurde.
August Gemunder and Sons
Dass George Gemunder nach seinem Tod im Jahre 1899 und nach dem Tod seines Sohnes und Nachfolgers Georg (III.) 1915 in Vergessenheit geriet, hatte aber weitere Ursachen, die auch mit dem Umzug nach Astoria zusammenhängen. Tief von der überragenden Qualität seiner Arbeit überzeugt, glaubte Gemünder, die räumliche Distanz zu Downtown Manhattan werde seinem Geschäft nicht schaden – ein Irrtum, der seine volle Wirkung entfaltete, als Georg Konkurrenz in dem Unternehmen seines Bruders August Martin Ludwig Gemünder erwuchs. Von 1846 bis 1859 hatten Albert und August Gemünder einen Orgelbaubetrieb in Springfield, Massachusetts geführt, den sie aufgaben, um in Georgs New Yorker Werkstatt einzutreten. 1864 machte sich August selbständig und bezog neben dem Bau und der Reparatur von Geigen auch den Handel mit alten Instrumenten ein. Obwohl seine eigenen Arbeiten von weit geringerer Qualität waren, entwickelte sich sein Unternehmen deutlich erfolgreicher, galt in der New Yorker Öffentlichkeit rasch als das Unternehmen Gemünder – und hat dabei sicher nicht wenig von der Reputation profitiert, die sich George erarbeitet hatte.
Von 1890 bis zu seinem Tod 1895 führte August Gemünder die Geschäfte gemeinsam mit seinen Söhnen unter der Firma „August Gemunder and Sons“, als eines der größten Unternehmen in New York. August Martin, Rudolph und Oscar Henry Gemünder verkauften einfachere Geigen als sog. „Art Violins“, die sie aus Europa – meist in weißem Zustand – einführten und nach eigenen Modellen modifizierten und mit einem Lack nach familiärer Rezeptur versahen. Auch die Umlackierung alter und importierter Instrumente wurde in nennenswertem Umfang betrieben. Während die „Art Violins“ von eher einfacher Qualität waren, erhielten bessere, meist französische Instrumente das Etikett „August Gemunder and Sons“. Auch die gehandelten Streichbögen waren von unterschiedlichem Standard und kamen zum Teil aus den renommierten Werkstätten von Bausch oder Pfretzschner, zum Teil aus billiger deutscher Massenproduktion.
An dem guten Ruf, der gleichwohl bis heute mit dem Namen Gemunder verbunden ist, hat nicht zuletzt August Martin Gemünder Anteil, der Sohn von August Martin Ludwig, der ein anerkannter Musiker war und sowohl seine Sachkenntnis als auch seine guten Kontakte in die Musikszene publizistisch auszuwerten verstand. 1899 hatte er bereits die musikästhetische Abhandlung „What Constitutes Good Music?“ veröffentlicht und gab seit 1892 das Magazin „Violin World“ heraus – frühe Beispiele für Corporate Publishing, die das Image der Gemünders prägten, in perfektem Zusammenspiel mit den ebenfalls von August Martin Gemünder verantworteten Katalogen.
Wenn „August Gemunder and Sons“ auch bis 1946, dem Todesjahr von Oscar Henry Gemünder bestand, waren der Tod von Rudolph 1916 und August Martin 1928 Einschnitte, nach denen das Unternehmen nicht mehr zu alter Größe zurückfand. Der inzwischen entwickelte Markt für den Bau und den Handel von Streichinstrumenten in den U.S.A. hatte neue Konkurrenten hervorgebracht. Zu ihnen gehörten Rudolph und Rembert Wurlitzer, die mit ihrer gründlichen Ausbildung in Europa eigene Maßstäbe setzten, aber auch amerikanische Geigenbauer wie Walter Ewing Colton, der aus George Gemunders Werkstatt hervorgegangen war. Diese als Wiege der Geigenbaukunst in der neuen Welt zu bezeichnen, wäre ohne Frage übertrieben, ein Brückenkopf war sie aber allemal, über den sich ein neues Niveau etablieren konnte – und ein Ort in der Fremde, an dem drei Brüder aus Ingelfingen nach langer Wanderschaft zu ihrem väterlichen Erbe gefunden hatten.
Literaturhinweise: Philip Kass, The Gemunder Family of violin makers. In: Journal of the Violin Society of America, Nr. 6(3)/1983, Flushing, NY 1983, S. 36ff. Georg Gemunder, George Gemünder´s progress in violin making, with interesting facts concerning the art and its critics in general. Astoria, NY 1881.
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