Englische Geige: Der Geigenbau in England

Streiflichter zum Geigenbau in England

Die Geschichte des Geigenbaus in England ist eine Erzählung, in der durchgehende Linien nur schwer auszumachen sind. Zu ihr gehören talentierte Meister, die den Vergleich mit ihren Kollegen in den wichtigen Geigenbauzentren des Kontinents keineswegs zu scheuen brauchen – und nicht selten von ebendort über den Ärmelkanal gezogen waren. Andere Kapitel berichten von Experten mit tiefem Verständnis für die historischen Spitzenleistungen der Geigenbaukunst und tüchtigen Geschäftsleuten, die von England aus den globalen Handel mit den besten Geigen der Geschichte beeinflussten. Und doch ist die überraschende Summe all dieser Episoden, dass sich in England, ja im gesamten Vereinigten Königreich nie ein dicht geknüpftes Netz von Meisterwerkstätten wie etwa in Italien etabliert hat, mit jener Vielfalt an familiären Traditionen und Lehrer-Schüler-Beziehungen, die die altehrwürdigen Geigenbauregionen Europas charakterisieren. Ebenso wenig entstanden industrielle Leuchttürme des Instrumentenbaus, die mit den global agierenden Zentren wie Mirecourt oder Markneukirchen vergleichbar wären. So ist der englische Geigenbau von Aufbrüchen geprägt, die im Sande verliefen; von hervorragenden Meistern, die von ihrer Kunst nicht leben konnten; und von einem rätselhaften Mangel, der Oscar H. Schmitz in seiner 1914 veröffentlichten, gleichnamigen Gesellschaftskritik von einem „Land ohne Musik“ schreiben ließ.

Der frühe englische Geigenbau im 17. und 18. Jahrhundert

Mit leichter Verspätung erscheint der englische Geigenbau auf der Bühne der Musikgeschichte, in dem Sinne, dass sich die Instrumente der Violin-Familie langsamer gegen die Gamben durchsetzen konnten, die die englische Musikkultur noch weit ins 17. Jahrhundert hinein dominierten. Violinen wurden, wo sie gebraucht wurden, vorrangig aus Italien importiert; Geigenbauwerkstätten entstanden nur zögerlich, und wenn, dann gehörten sie nicht selten vom Kontinent zugewanderten Meistern wie dem deutschen Jacob Raymann (ca. 1596–1660), der als einer der ersten Geigenbauer Britanniens gilt.

Wie ihre Zeitgenossen in vielen anderen Regionen Europas zeigen auch die greifbaren Exponenten des frühen englischen Geigenbaus – neben Raymann vor allem Christopher Wise (um 1650) und Thomas Urquhart (2. Hälfte des 17. Jh.) – eine Vorliebe für eher hoch gewölbte Modelle, insbesondere das von Jakob Stainer. Thomas Smith, Nathaniel Cross und Alexander Kennedy stehen beispielhaft für die Konstanz, die diese Tradition bis ans Ende des 18. Jahrhunderts behaupten konnte.

Einflüsse italienischer Meister im Werk englischer Geigenbauer

Dass die Neuorientierung zu flacher gewölbten Instrumenten in England vergleichsweise spät einsetzte soll aber nicht den Blick auf interessante Meister verstellen, in deren Werk dieser Übergang sichtbar wird. Hier ist allen voran der hoch angesehene Urquhart-Schüler Barak Norman (ca. 1670–1740) zu nennen, der sich im Laufe der Zeit offenkundig intensiv mit Giovanni Paolo Maggini beschäftigte und sein Violinmodell im Sinne des Stils von Brescia weiterentwickelte – ein bemerkenswertes Interesse angesichts der Tatsache, dass der weitaus größere Teil seines Geschäfts selbst im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert noch im Bau von Gamben, Lauten und Theorben bestand.

Die ersten Spuren des Stradivari-Modells im englischen Geigenbau sind bei Daniel Parker zu finden, der im frühen 18. Jahrhundert arbeitete und die Cremoneser Tradition vermutlich durch Instrumente italienischer Musiker kennengelernt hat. Doch obwohl Parker herausragende Ergebnisse erzielte – kein geringerer als Fritz Kreisler spielte eine Parker-Violine von 1720 – sollten die Bauprinzipien der italienischen Klassiker erst zwei Generationen später eine breitere Wirksamkeit entfalten. Zu den Vorreitern dieser Entwicklung zählen an vorderer Stelle Benjamin Banks und seine Söhne, deren Werkstätten in Salisbury, Liverpool und London zu den ersten Adressen ihrer Zunft im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert gehörten. Exzellente Qualität erreichten in derselben Zeit auch Charles Harris sen. und jun. in Oxford und London, denen aber kein angemessener geschäftlicher Erfolg vergönnt war. Ungeachtet dieser vielversprechenden Anläufe setzte sich das Stradivari-Modell aber nur stockend im englischen Geigenbau durch, und selbst einflussreiche Meister wie Richard Duke bauten neben ihren „italienischen Expeditionen“ weiterhin Stainer-Kopien, für die offenkundig selbst im späten 18. Jahrhundert noch eine große Nachfrage bestand. So kommt Vincenzo Trusiano Panormo (1734–1813) das Verdienst zu, dem Cremoneser Modell in England zum Durchbruch verholfen zu haben, nicht zuletzt durch seine Schüler, mit denen der englische Geigenbau um die Wende zum 19. Jahrhundert einen historischen Zenit erreichte.

„Land ohne Musik“? Der englische Geigenbau im 19. Jahrhundert

Obwohl das 19. Jahrhundert durchaus mit guten Voraussetzungen für die Geigenbaukunst in England begann, verlief ihre weitere Entwicklung signifikant anders als etwa in Frankreich, Deutschland und Italien: Weder konnte sich eine „Szene“ anspruchsvoller Meisterwerkstätten mit eigenen Traditionen etablieren noch fanden sich in der Heimat der Industrialisierung Unternehmer, die nennenswerte Manufakturen und Fabriken zur Produktion von Streichinstrumenten gegründet hätten. Für die englische Musikkultur, die seit den Tagen Henry Purcells erstaunlich schwach ausgeprägt war – Oscar A. H. Schmitz nannte das England dieser Epoche später ein „Land ohne Musik“ – waren Musiker und Komponisten vom Kontinent unverzichtbar; die Versorgung mit günstigeren Streichinstrumenten für die musikalische Breitenkultur übernahmen die gut aufgestellten Betriebe in Mirecourt und Markneukirchen, während die handwerkliche Geigenbaukunst auch in der Zeit nach Panormo weiterhin stark durch zugewanderte Meister beeinflusst wurde. Zu ihnen gehören an vorderer Stelle George Adolphe Chanot und Georges Chanot Jun., Neffen des bedeutenden Vuillaume-Weggefährten François Chanot, die dem Geigenbau in England wieder ein wenig internationalen Glanz verliehen und eine der wenigen familiären Traditionen etablierten.

England als Zentrum des internationalen Geigenhandels

Andere talentierte und gut ausgebildete Meister fanden unter den besonderen Marktbedingungen ihr Auskommen, indem sie ihre Expertise in den Dienst des Handels mit hochwertigen Streichinstrumenten stellten. Ein frühes Beispiel ist der Duke-Schüler John Edward Betts (1752–1823), der als erster Importeur hochwertiger italienischer Geigen und Wegbereiter der Stradivari-Violine in England gilt. Im Windschatten dieses neuen Geschäftsmodells entstand Bedarf an geigenbauerischer Exzellenz, und so finden sich unter den Mitarbeitern seiner Werkstatt große Namen wie Panormo, Joseph Hill II und Bernard Simon Fendt; die Bogenmacher John Dodd und Thomas Tubbs arbeiteten erstklassige Streichbögen zu.

Zum Kreis der Betts-Werkstatt gehörte auch ein anderer Vertreter der Hill-Familie, Josephs Sohn Henry Lockey Hill, der das Haus Betts mit einer der berühmtesten britischen Institutionen in der Welt feiner Streichinstrumente verbindet, dem von seinem Sohn William Ebsworth Hill gegründeten Unternehmen W. E. Hill & Sons. Neben den Unternehmen J. & A. Beare und der Familie Beare brachten die Hills den Handel mit alten und zeitgenössischen Meisterwerken der Geigen- und Bogenmacherkunst zu höchster Reife – und schrieben damit die besondere Rolle Englands in der Geigenbaugeschichte über mehrere Generationen fort.

Der englische Geigenbau heute

Das ausnehmend hohe handwerkliche Niveau, das in den Werkstätten der Hills und Beares gepflegt wurde, zog über die Jahre die besten internationalen Meister an. Durch die Gründung der Newark School of Violin Making im Jahr 1972 und weiterer renommierter Ausbildungsstätten ist in jüngster Zeit eine interessante Szene sehr guter, innovativer Geigenbauer entstanden, die den englischen Geigenbau mit den besten Erwartungen in die Zukunft blicken lässt.