Andrea Guarneri – der Stammvater
Leben und Werk Andrea Guarneris, dem als Stammvater der großen Cremoneser Geigenbauerfamilie Guarneri historische Bedeutung zukommt, sind eng verflochten mit der Geschichte des Hauses Amati. Bei Nicolò Amati erlernte der aus dem Bauerndorf Casalbuttano stammende Junge sein Handwerk, stieg zu einem beinahe als Familienmitglied anerkannten Vertrauten auf und verdankte der konjunkturellen Überforderung der Werkstatt wahrscheinlich seine eigene Etablierung in der ersten Reihe des barocken italienischen Geigenbaus.
- Andrea Guarneri – der Stammvater
- Giuseppe Giovanni Battista Guarneri (I) – der Treue
- Pietro Giovanni Guarneri – Pietro da Mantova
- Pietro Guarneri „filius Joseph“ – Pietro di Venezia
- Giuseppe Guarneri „del Gesù“ – auf Augenhöhe mit Stradivari
Wann Guarneri seine Ausbildung bei Nicolò Amati begann, ist nicht sicher belegt; denkbar sind die späten 1630er Jahre, sicher ist, dass er 1641 als Mitglied der Werkstatt und des Haushaltes geführt wurde. 1645 trat Guarneri als Trauzeuge bei der Hochzeit Amatis auf, was auf eine deutlich engere Verbindung hinweist, als sie durch die Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zwischen Meister und Geselle in dieser Zeit ohnehin bestand. Vermutlich sah Amati in seinem talentierten Schüler eine Vertrauensperson, die auch für eine spätere Übernahme der Werkstatt in Frage gekommen wäre – und auf die er auch weiterhin zählte, nachdem ihm 1649 mit Girolamo Amati der erste Stammhalter geboren worden war.
Mit seiner eigenen Hochzeit im Jahr 1653 ist dann aber für Guarneri die Weichenstellung zur Gründung einer eigenen Existenz verbunden, und er etabliert sich in der unmittelbaren Nachbarschaft Amatis als selbständiger Meister, der sich – in einem Akt sowohl der respektvollen Bezugnahme als auch der werbestrategisch klugen Anknüpfung – auf seinen ersten eigenen Geigenzetteln stolz als einen „ex Allumnis Nicolai Amati“ bezeichnet.
Und tatsächlich steht das Werk Andrea Guarneris weitgehend unter dem Einfluss seines Lehrers, wenn auch die Instrumente des Schülers nie die detailversessene Präzision und harmonische Gesamtqualität des Vorbilds erreichen. Möglicherweise war er mit den Feinheiten der abschließenden Ausarbeitung neuer Instrumente nicht vertraut, da sie in Amatis Werkstatt in der Regel dem Meister selbst vorbehalten gewesen sein dürfte.
Erst in späteren Jahren wagte Guarneri einige Innovationen, von denen die etwas engere Stellung der F-Löcher zu den nicht unbedingt erfolgreichen Experimenten der Geigenbaugeschichte zu rechnen ist. Dem gegenüber stellen seine wenigen erhaltenen Gamben erstklassige Meisterwerke dar, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen. Nicht zuletzt gehört seine kleinere Interpretation des Violoncellos, die den wachsenden solistischen Anforderungen der Musikkultur seiner Zeit Rechnung trug, zu den zukunftsweisenden Errungenschaften der alten Guarneri-Werkstatt, in denen – je später, desto mehr – die Hand seiner Söhne erkennbar wird.
Giuseppe Giovanni Battista Guarneri (I) – der Treue
Andrea Guarneris jüngerer Sohn Giuseppe Giovanni Battista verbrachte sein ganzes Leben im Haus des Vaters – als Schüler, Gehilfe und Nachfolger in der Werkstatt, aber auch mit seiner Familie, die er im Jahr 1690 gründete. Seine enge Verbindung zum Vater und dessen Etablierung als zweiter bedeutender Geigenbauer neben Amati reflektiert auch Giuseppes ab 1698 verwendeter Geigenzettel, auf dem er sich als „filius Andreae“ bezeichnet.
Obwohl Giuseppe Guarneri stets treu auf den bereits gebahnten Wegen blieb, weist seine Werkbiographie manch dunkle, rätselhafte Stelle und Spuren eines mühevollen, wechselhaften Lebens auf. Schon der Übergang der Werkstatt nach Andreas Tod war finanziell dadurch belastet, dass Giuseppe mehrere Erben auszahlen musste, darunter auch seinen in Ungnade gefallenen älteren Bruder Pietro. Kurz darauf geriet Cremona in die Wirren des Spanischen Erbfolgekrieges, die sich bis 1707 hinzogen. Und nachdem mit der österreichischen Eroberung wieder Stabilität eingekehrt war, musste sich Giuseppe in derselben misslichen Lage behaupten, die bereits das Leben seines Vaters bestimmt hatte: Stets der zweite unter den besten zu sein, der Andrea neben Amati, Giuseppe neben Stradivari, der seinerseits nur der stärkste der vielen Konkurrenten unter den Cremoneser Geigenbauern dieser Zeit war.
So verwundert nicht, dass sich das Werk Giuseppe Guarneris uneinheitlich präsentiert, und neben wahren Meisterwerken der Geigenbaukunst – wegen derer ihn kein geringerer als Charles Beare zu den größten Geigenbauern der Geschichte zählt – auch Instrumente aus erstaunlich einfachen Materialien und mit auffallenden Nachlässigkeiten in der Ausarbeitung umfasst. Ab 1715 fand er in seinen Söhnen Unterstützung, doch bricht sein Werk 1720 unvermittelt ab, obwohl er noch rund 20 Jahre länger lebte. Warum ab diesem Zeitpunkt keine Instrumente von Giuseppe Guarneri mehr bekannt sind, gehört zu den ungelösten Fragen der Forschung.
Stammbaum der Geigenbauer-Familie Guarneri
Pietro Giovanni Guarneri – Pietro da Mantova
Anders als sein Bruder Giuseppe verbrachte Andrea Guarneris ältester Sohn Pietro nicht sein gesamtes Leben im väterlichen Haus; wie der Bruder erlernte er sein Handwerk in der Casa Guarneri und blieb dort auch nach der Gründung seiner Familie zunächst wohnen, entschied sich aber 1679, Cremona zu verlassen und nach Mantua zu ziehen – ein Schritt, den ihm der Vater wohl nie verziehen hat, der sich aber als richtig erwies, fand Pietro doch in der Fremde ein weit besseres Auskommen.
In Mantua sicherte ein Engagement im Hoforchester des Herzogs Ferdinando Carlo Gonzaga die Existenz des zugleich als Geigenbauer und Violinist ausgebildeten Pietro, der zur Unterscheidung von seinem gleichnamigen Neffen auch „Pietro da Mantova“ genannt wird. Daneben konnte er sich, weitgehend frei von lokaler Konkurrenz, als der exzellente Geigenbauer etablieren, als der er seinen Platz in der Geschichte des Geigenbaus beansprucht: Im Unterschied zu dem in Cremona gebliebenen Giuseppe arbeitete Pietro ganz offenkundig für zahlungskräftige Kunden und musste daher keinerlei Konzessionen in Fragen des Materials oder des Aufwands eingehen, den er in die Ausarbeitung seiner Instrumente investierte. So sind von ihm außergewöhnlich schöne Geigen und ein Violoncello erhalten, die mit ihrer Eleganz und einem zwar nicht revolutionären, aber klaren individuellen Stil überzeugen.
Dass sein Werk insgesamt überschaubar blieb – heute sind etwa 50 Instrumente bekannt – lag sicher auch daran, dass er Zeit seines Lebens mehreren Tätigkeiten nachging. Dazu gehörte neben der Musik auch ein erfolgreicher Saitenhandel, für den er 1699 durch den Herzog mit einem Monopol privilegiert wurde.
Obwohl seine Geschäfte nachweislich sehr gut gingen, blieb Pietro Guarneri da Mantova ohne Nachfolger; ob ihm zur Ausbildung seiner Söhne oder eines anderen, geeigneten Lehrlings die Zeit fehlte, kann nur vermutet werden. Sicher ist aber, dass er durch sein Vorbild einen gewissen Einfluss auf andere Geigenbauer ausübte, darunter die Mantueser Balestrieri und Camilli – aber auch sein Bruder Giuseppe, der sich in vielen Dingen mehr an Pietro als an seinem Vater Andrea orientierte, und seinen Neffen Pietro Guarneri „filius Joseph“.
Pietro Guarneri „filius Joseph“ – Pietro di Venezia
Aus dem Dunkel, in dem sich die Biographie Giuseppe Guraneris nach 1720 verliert, entspringt der Lebensweg seines Sohnes Pietro, des venezianischen Guarneri, der auch als Pietro di Venezia oder „filius Joseph“ bekannt ist. Auf das Jahr 1721, also kurz nach dem rätselhaften Verstummen seines Vaters, datiert sein erster persönlicher Geigenzettel. Vermutlich hat er bald danach Cremona verlassen und bei einem venezianischen Meister als Gehilfe gearbeitet, um sich schließlich in der Lagunenstadt selbständig zu machen. 1725 ist er dort zum ersten Mal dokumentarisch greifbar, und eine mindestens private Verbindung zur Lautenmacherfamilie Sellas (Seelos) ist nachgewiesen.
Wie für seinen Onkel hat sich auch für den venezianischen Pietro die Entscheidung als richtig erweisen, Cremona den Rücken zu kehren. Zwischen 1730 und 1750 baute er eine stattliche Zahl von Violinen und einige Violoncelli, die eine Sonderrolle im Vergleich mit den anderen Geigenbauern seiner Familie einnehmen. Zwar behielt er einige Errungenschaften der Guarneris bei, etwa die Anlage der Wölbung von Decke und Boden, schuf aber in seinem persönlichen Stil eher eine Synthese des übermächtigen Vorbilds Stradivari und der venezianischen Tradition. Insbesondere die Lackarbeit, die ein für den Verkaufserfolg nicht unerhebliches Merkmal darstellt, folgt klar dem zu seiner Zeit in Venedig aktuellen Geschmack, und wie es in seiner Wahlheimat üblich war, verzierte Pietro seine Geigenzettel mit floralen Ornamenten – ohne freilich auf die Reverenz „figlio di Giuseppe“ und den Hinweis „Cremonese“ zu verzichten.
Giuseppe Guarneri „del Gesù“ – auf Augenhöhe mit Stradivari
Während Pietro da Mantova und Pietro di Venezia Guarneri ihr Glück außerhalb Cremonas suchten und fanden, nahm der Lebensweg von Bartolomeo Giuseppe Guarneri „del Gesù“ nach dem offenkundigen wirtschaftlichen Zusammenbruch der väterlichen Werkstatt einen ganz anderen Verlauf als die Biographien seines Onkels und Bruders. So spärlich die Informationen über diese dunklen Jahre im Leben des Mannes sind, der als der größte Geigenbauer der Geschichte neben Antonio Stradivari angesehen wird, so klar scheint doch zu sein, dass er sich zwischen 1723 und 1730 kaum mit seiner Kunst befasste – die wenigen Instrumente dieser Zeit, für die seine Urheberschaft in Frage kommt, sind bis auf Ausnahmen nicht sicher zuzuordnen.
Als er 1731 nach Cremona zurückkehrte, knüpfte er also unmittelbar an seine Zeit als Lehrling und Gehilfe in der väterlichen Werkstatt an – und damit an eine inspirierende Phase, in der er sich stets große Freiräume für Experimente genommen hatte. Nicht zuletzt aus diesem Grund wird die späte Zeit der Werkstatt von Giuseppe Giovanni Battista Guarneri heute auch als Frühphase des Werkes von Giuseppe Guarneri del Gesù betrachtet.
Dem Experiment blieb del Gesù in den folgenden 15 Jahren seines Wirkens verbunden, und so sind es im Wesentlichen 3 Merkmale, die als Konstanten seines Werkes angesehen werden können:
- Die Signatur mit dem Christusmonogramm IHS und dem verzierten Kreuz, die ihm seinen Beinamen eingetragen hat,
- die ungewöhnliche, sprachlich obsolete Schreibweise „Cremonȩ“ anstelle von „Cremonae“
- und die im Wortsinn einzigartig guten Klangeigenschaften, die Guarneris Violinen zu den bevorzugten Instrumenten von Weltklassegeigern wie Heifetz, Stern und Zukerman werden ließen – angefangen bei der legendären „Cannone“ von Niccolò Paganini.
Alle anderen Eigenschaften der Geige befanden sich bei Guarneri in steter Veränderung, und auf der Suche nach einem kraftvolleren, wärmeren Klang war er sofort zu jedem Bruch mit den ästhetischen und handwerklichen Konventionen bereit, die nicht zuletzt seine eigene Familie mit entwickelt hatte.
Diese Haltung reflektiert schon sein Frühwerk, in dem er sich aktiv mit den Innovationen des berühmten und höchst erfolgreichen Nachbarn Antonio Stradivari befasste – ganz im Unterschied zu seinem Vater, der den Konkurrenten offenbar geflissentlich ignorierte. So schreibt die Forschung die signifikante Klangverbesserung einiger Giuseppe-Guarneri-Violinen der späten 1710er Jahre diesem Einfluss Stradivaris zu, der seinen Weg über del Gesù in die Werkstatt Guarneri gefunden hatte. Ab 1730 nun wandte sich Guarneri der Schule von Brescia zu und verbesserte die Wölbung, den Umriss und die Position der F-Löcher nach den Vorbildern da Salòs und Magginis.
Auf diesem Wege erzielte Guarneri um das Jahr 1735 seine schönsten Ergebnisse, und seine historische Leistung besteht nicht zuletzt darin, die besten Eigenschaften der Cremoneser und Brescianer Tradition als der beiden einflussreichsten und am höchsten entwickelten italienischen Geigenbauschulen in genialer handwerklicher Arbeit verbunden zu haben.
Die verbleibenden 9 Jahre bis zu seinem frühen Tod sind von einer zunehmenden Vernachlässigung aller Aspekte geprägt, die für den Klang der Geige nebensächlich oder unbedeutend sind. So folgte Guarneri bei der Wahl seiner Hölzer immer entschiedener ihren klanglichen Eigenschaften und ließ sich dabei von keiner noch so schönen Maserung mehr bestechen; flüchtig und mit erkennbarem Desinteresse präsentiert sich die Ausarbeitung, die Farbgebung des Lackes scheint mehr dem Zufall überlassen, die F-Löcher sitzen asymmetrisch und scheinen mehr dem Gespür des Meisters für das Schwingungsverhalten der Decke zu gehorchen als den Anforderungen des Auges.
Anders als Antonio Stradivari lebte Guarneri del Gesù das Prinzip von Versuch und Irrtum nicht nur in einer Phase seiner Werkbiographie, sondern bis zum letzten Tag seiner Tätigkeit. Vielleicht liegt auch in dieser genialen Offenheit ein Teil der Popularität, die seine Instrumente bis heute bei herausragenden Künstlern genießen – über ihren exzellenten Klang hinaus, der auch 300 Jahre später noch Maßstäbe setzt.
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