Markneukirchen oder „Deutsch-Cremona“: Einführung in die Geschichte des deutschen vogtländischen Geigenbaus
Markneukirchen ist eine Stadt im sächsischen Erzgebirge, nahe der Grenze zu Tschechien. Jahrhundertelang war sie die inoffizielle Hauptstadt des „sächsisch-böhmischen Musikwinkels“, einer der Schwerpunkte des Musikinstrumentenbaus in Europa. Nach einem enormen industriellen Aufschwung im 19. Jahrhundert fand der Geigenbau in Markneukirchen zu seinen handwerklichen Wurzeln zurück und wir heute durch kleine, traditionell orientierte Werkstätten, das sehenswerte Markneukirchener Geigenbau-Museum und eine Fachhochschule für Musikinstrumentenbau repräsentiert.
Mit kräftigem Lokalpatriotismus und gesundem Selbstbewusstsein ließ der Markneukirchener Geigenbauer Ludwig Gläsel jr. (1842-1931) „Deutsch-Cremona“ auf seine Geigenzettel drucken. Ludwig Gläsel jr. gilt als einer der besten und erfolgreichsten vogtländischen Meister seiner Zeit, der sich zudem mit mehreren Veröffentlichungen um die Geigenbaugeschichte verdient gemacht hat. Einem, der wie er zu einer alteingesessenen und weitverzweigten Geigenmacher-Familie gehörte, stand jener verwegene Stolz also auch zu, der Markneukirchen als die Hauptstadt des Musikwinkels an der sächsisch-böhmischen Grenze in die Nähe des legendären Cremona rückte.
Oder war vielleicht doch auch ein Augenzwinkern dabei? Immerhin genoss Markneukirchen während der rund 350 Jahre, in denen hier Musikinstrumente gebaut wurden, nicht immer einen makellosen Ruf. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sah sich etwa Carl Wilhelm Heber veranlasst, in einer seiner Geigen einen zusätzlichen Zettel anzubringen:
Viel falsches nachgemacht,
Sich da und dort schleicht ein,
Drum sieh mein Petschaft an
Willst nicht betrogen seyn.
Wer sich mit alten Geigen befasst, kennt die falschen Papiere gut, die von italienischer Provenienz und berühmten – oder wenigstens berühmt klingenden – Namen künden. Im „Musicon Valley“, wie man die Region um Markneukirchen heute auch nennt, kannte man die Geduldigkeit des Papiers und die Bedürfnisse des Marktes gut, und nicht wenige Geigen offenbaren ihre sächsische Herkunft erst dem geschulten Auge. Gründe, auf die eigene Geigenbautradition stolz zu sein, gibt es für die Markneukirchener aber genug. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt die Geschichte des vogtländischen Geigenbaus, und wie im benachbarten Klingenthal waren es protestantische Auswanderer aus dem nahen, böhmischen Kraslice (Graslitz), die mit dem Geigenbau einen wichtigen neuen Wirtschaftszweig nach Markneukirchen brachten.
Der Geigenbau in Markneukirchen: Handwerkliche Tradition und Globalisierung
Am 6. März 1677 bestätigte Herzog Moritz von Sachsen die Gründung der ersten Geigenbauer-Innung von Markneukirchen, zu der sich zwölf ins Vogtland eingewanderte böhmische Exulanten zusammengeschlossen hatten (siehe Klingenthal – Die Anfänge des Geigenbaus). Um die Qualität und Integrität der neuen Geigenproduktion zu gewährleisten, stellte die Innung strenge Regeln auf: Bewerber mussten aufwändige Meistergeigen präsentieren, hohe Aufnahmebeiträge entrichten und einen Fürsprecher gewinnen, der ihre Bewerbung unterstützte. Ein um so bedeutenderes Datum ist das Jahr 1713, in dem erstmals ein „Nichtgelernter“ Aufnahme fand: der Händler Johann Elias Pfretzschner. Zuvor hatten die Meister persönlich Märkte, Messen und Kunden besucht, zum Teil über sehr weite Entfernungen.
Die nun beginnende „Professionalisierung“ des Handels sollte sich als Segen und Fluch zugleich erweisen: Einerseits sorgte sie für den weltweiten Markterfolg vogtländischer Streichinstrumente; andererseits war damit der Niedergang des handwerklichen Geigenbaus verbunden, der mehr und mehr arbeitsteiligen, ja industriellen Produktionsformen wich. Schon 1719 nahm die Markneukirchener Innung einen spezialisierten Wirbeldrechsler auf, bald gab es eigene Werkstätten der Halsschnitzer, Decken- und Bodenmacher, bis schließlich unzählige Heimarbeiter die Vorarbeiten für die wenigen verbliebenen Meisterbetriebe leisteten. Diese nannten sich nicht selten „Fabrik“ und fügten die Einzelteile nach den Vorgaben der zu beachtlicher Größe gewachsenen Handelshäuser zusammen, den Anforderungen eines globalisierten Musikinstrumentenmarktes entsprechend, der nach billiger Ware in großen Stückzahlen verlangte.
Um 1800 fertigte der Geigenbau in Markneukirchen mit etwa 80 Betrieben rund 18.000 Geigen jährlich. Sie orientierten sich immer mehr an den gefragten italienischen Vorbildern und verließen die eigene, böhmisch-sächsische Tradition. Um die Wende zum 20. Jahrhundert galt Markneukirchen als eine der reichsten Städte Deutschlands, in der sogar ein eigenes U.S.-Generalkonsulat bestand. Die Schattenseite des Profits war aber die soziale Not der vielen abhängigen, kleineren Geigenbauer, Meister, ihrer Familien und Gesellen. Richtig ist dennoch, dass das Vogtland – der ökonomischen Großwetterlage zum Trotz – stets herausragende Geigenbauer hervorgebracht hat, die eigenständige, wertvolle Instrumente schufen. Einige wichtige Meister und Geigenbauer-Familien stellen wir im folgenden Kapitel vor.
Wichtige Geigenbauer-Familien aus Markneukirchen
Der vogtländische Geigenbau ist nicht mit der großen Zahl billiger Instrumente gleichzusetzen, die im 18. und 19. Jahrhundert in alle Welt verkauft wurden. Markneukirchen war Herkunftsort und Ausbildungsstätte vieler internationaler Geigenbauer und Geigenbaumeister, die z. B. in den U.S.A., Russland und verschiedenen europäischen Metropolen wirkten. Qualität und Innovationskraft zeichneten aber auch viele Geigenbauer aus, die in ihrer Heimat geblieben waren.
Heberlein
Zu den wichtigsten Geigenbauer-Familien Markneukirchens gehört die Familie Heberlein, die sich international einen sehr guten Namen erworben hat. Ihr bekanntestes Mitglied ist Heinrich Theodor Heberlein jr. (1843-1910), der für die sehr gute Qualität seiner Streichinstrumente bekannt war und vielfach ausgezeichnet wurde, u. a. als Ritter des Sächsischen Albrechtsordens. Johann Gottlob Heberlein (1782-1856) war ein guter Geiger und experimentierfreudiger Geigenbauer, der 1813 gemeinsam mit einem Blasinstrumenten-Macher eine Geige aus Messing herstellte – ein interessantes, „interdisziplinäres“ Detail der Markneukirchener Instrumentenbau-Geschichte!
Hamm
Auch Johann Gottfried Hamm (1744-1817) gehörte zu einer weitverzweigten Markneukirchener Geigenbauer-Familie, und war einer der wenigen, die mit ihren gefälschten italienischen Zetteln Erfolg hatten. Seine sorgfältigen Arbeiten, besonders die zum Teil mit einem Elfenbeinrand versehenen Einlagen, wurden tatsächlich oft italienischen Schulen zugeschrieben.
Roth
Für die industrielle und gleichwohl qualitätsbewusste Markneukirchener Geigenproduktion steht der Name der Familie Roth. Gustav Robert Roth (*1852) lernte in der berühmten Leipziger Werkstatt von Ludwig Christian August Bausch und gründete 1873 seine Streichinstrumentenfabrik, die er ab 1900 gemeinsam mit seinem Sohn Ernst Heinrich Roth (1877-1948) führte. Ernst Heinrich war ein hervorragender Geigenbauer, der seine Kunst auf ausgedehnten Reisen durch Europa perfektioniert hatte. Ein weiteres Mitglied der Familie, Otto Roth, fertigte für das Orchester der Oper in Chicago ein wahres Kuriosum: eine Riesenbassgeige mit 2,10 m Korpuslänge und einer Gesamthöhe von 4,20 m. Weitere Informationen zur Geschichte der Familie Roth bietet die Website der bis heute bestehenden Firma.
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